Die Legende über die Farnblüte

Aberglauben, der mit Farn im Zusammenhang steht, gilt als der älteste aller Aberglauben.
Überlieferungen aus Britanien, Böhmen, Deutschland, Syrien und aus dem Volksgut der Slawen und Balten erzählen uns über die wunderbaren Farne und ihre Sporen. Diese Pflanzen schauen uns mit ihren feurigen Augen aus den Seiten der Werke Shakespeares, Gogols, B. Jons', Bomonts, und Fletchers an. Die Urahnen glaubten daran, dass der Farn einmal im Jahr blüht, und zwar nachts kurz vor dem längsten Tag. Kurz nach dieser Nacht reifen die Sporen. Der Farn verleiht dem Besitzer geheimnisvolle Kräfte, offenbart Verborgenes und zeigt Schätze. Seine Sporen geben dem Menschen die Fähigkeit, unsichtbar zu werden. Derjenige der den Farn pflücken will, muss in besagter Nacht ins Dickicht des Waldes gehen, dorthin wo der Farn wächst, und um sich herum mit einem Messer einen Kreis ziehen. Nachher muss ein sauberes, weisses Tuch ausgelegt werden, auf welches die Sporen fallen können, denn sie dürfen weder mit dem Erdboden noch mit der Hand in Berührung kommen.
Im russischen Volksgut sind die Überlieferungen über den Farn deutlich in der Überzahl im Vergleich zu denjenigen über sonstige Pflanzen. In uralten Manuskripten hiess er "Kotschedyschnik". Die Pflanze blühte in der Nacht vor dem christlichen Fest "Ivana", vom 6. auf den 7. Juli. Laut urrussischen Mysterien waren diese zwei Tage Feiertage im Sonnen- und Feuerkult. Der Farn wurde unter Ritualen und Gebeten gepflückt. Nach dem Volksglauben war die ganze Kraft in der Blüte vereint, und diese wurde von teuflischer Macht bewacht. Die Überlieferungen erzählen nämlich, dass in tiefer Nacht unter breiten Blättern eine Blütendolde erscheint. Sie bewegt sich mal nach vorne, mal rückwärts, mal schwankt sie wie eine Welle des Stroms, oder beginnt zu hüpfen wie ein lebendiges Vögelchen. All das geschieht deshalb, weil der Teufel die wertvolle Blüte von dem Auge des Menschen verstecken will. Alsbald vergrössert sie sich, wächst hoch und glimmt auf wie Glut. Schliesslich, gegen Mitternacht erscheint die Blüte unter einem knackenden Geräusch, und sie beleuchtet die Umgebung wie die aufgehende Sonne. Genau in diesem Moment pflückt der Teufel die Blüme.
Wer sich dazu entschloss, die "Koschedyschnik- Blüte" zu pflücken, muss beizeiten in den Wald kommen, die Pflanze finden, einen Kreis ziehen und bis zum Anbruch des Tages bleiben. Er musste sich dem Teufel gegenüber hart und unnachgiebig erzeigen, allen Verführungen widerstehen und bei allen teuflischen Tricks gleichgültig bleiben. Wer sich auf Teufels Ruf umdrehte, den würgte der Teufel, oder dem schraubte er entweder den Kopf ab, oder er trieb ihn in den Wahnsinn. Bis daher gab es in den Dörfern keinen Bericht darüber, dass jemand anderes als die Weisen den "Kotschdyschnik" auflesen konnten. Nicht umsonst, denn wer die Farnblume besass, der war Herrscher über Boden und Wasser und über den Teufel selbst.
In der englischen Überlieferung finden wir dasselbe. Gegen Mitternacht hört man ein unheimliches Geschrei, und die Dämonen lassen sich in verschiedenen Gestalten sehen. Sie drohen demjenigen, der sich in einem aufgezeichneten Kreis befindet, mit dem Tod. Er darf den Kreis nicht verlassen. Um Mitternacht blüht der Farn und eine der Blüte fällt auf das Tuch. Wer sich im Kreis befindet, muss noch mehrere Ängste durchstehen, aber der rettende Kreis darf nicht verlassen. Die teuflischen Geister sind unfähig, ihn zu betreten. Falls der Mensch all das überwindet und nicht von Angst stirbt, kann er erleben, dass beim ersten Hahnaufschrei alles Teuflische verschwindet und er die Farnblüte in der Hand hält.
Noch eine Geschichte, die aus dem uralten Russland zu uns kam.
Ein braver Bursche zog aus, um in der Nacht vor dem "Ivana Kupala" -Fest", die "Ivan-Blüte" aufzulesen. Irgendwo stahl er Evangelien, nahm die mitsamt eines Bettlakens mit und kam im den Wald auf ein Plätzchen. Er zog drei Kreise und las Gebete durch. Gegen Mitternacht blühte der Farn auf wie ein Sternchen, und seine Blüte fiel auf das Laken. Der Bursche hob sie auf und verknotete das Laken. Dazu fuhr er fort, Gebete zu sprechen. Plötzlich erschienen Bären, und ein Sturm zog auf. Der Bursche machte weiter mit den Gebeten und hielt das Laken am Knoten fest. Alsbald wurde es hell, und die Sonne ging auf. Der Bursche eilte davon, die Beute in der Hand. Plötzlich jemand von hinten in ihn hinein. Er drehte sich um: Jemand in rotem Hemd überfiel ihn und schlug mit voller Wucht zu - der Bursche liess das Laken fallen. Jetzt war es wieder Nacht, und er stand ganz alleine da ohne die Blüte.

Diese bezaubernde Legende hat einen tiefen Sinn. Wir alle suchen in dem Wege des Wissens nach unserer eigenen Farnblüte. Es ist jedem Menschen gegeben, in seinem Innern eine feurige Blüte von unsichtbarer Schönheit zu pflanzen, aber der Weg dazu ist kompliziert und gefährlich. Viele Hindernisse, Fallen und Verführungen warten auf uns. Lesen Sie die Legenden nochmals, jeden Abschnitt überdenkend. Geben Sie sich Mühe, zwischen den Zeilen zu lesen, hinter die Fassade der banalen Phrasen zu schauen, und dann wird sich der Vorhang, der uns von Erträumtem und Gewünschtem trennt, öffnen lassen. Ständig, und seit jeher, auch schon vor unserer Geburt, streben wir danach. Aber bevor Sie den Schritt machen, fragen Sie sich, ob Sie dazu bereit sind.

Natascha von Schwarzkauz.